Offener Brief: Demokratie verteidigen
Liebe Mitglieder von Fridays for Future Tübingen,
ein paar Gedanken zu den Ereignissen der letzten Tage.
Am Montag demonstrierten auf Initiative von FfF Tübingen über 1.000 Menschen unter dem Motto „Demokratie verteidigen“. Auslöser sind die Berichte vom Recherchenetzwerk „Correctiv“. Respekt, was Ihr in kurzer Zeit auf die Beine stellt, FfF! Es ist gut und richtig, dass Ihr Flagge zeigt. Danke überhaupt an alle, die in diesen Zeiten aufrichtig für unsere Demokratie kämpfen.
Denn auch mich bestürzen die Rechercheergebnisse und sie zeigen erneut: Rechtsextremismus und Antisemitismus sind aktuell die größten inneren Sicherheitsrisiken hierzulande. Die Leute von der sogenannten „Werte-Union“, die an dem Treffen teilgenommen haben, haben meines Erachtens nichts in der CDU verloren. Eine Mitgliedschaft in CDU und Werte-Union schließt sich für mich aus.
Online und auf der Straße haben viele Menschen nachgefragt: Warum hat die CDU am Montag nicht mitdemonstriert? Die erste Antwort ist einfach: Weil FfF CDU genau wie die FDP nicht eingeladen hat.
Wie soll das gehen: die Demokratie an sich verteidigen, Rechtsextreme bekämpfen und gleichzeitig eine an der Bundesregierung beteiligte Partei sowie die größte Oppositionspartei übergehen? Ich finde, das passt nicht zusammen. Sollte das nicht die Sache aller Demokratinnen und Demokraten sein – gleichgültig, ob sie manchmal politisch unterschiedlicher Meinung sind? Es sei denn, Ihr wollt ausdrücken, diesen Bürgerlichen ist nicht zu trauen; wenn man damit nicht sogar sagen möchte, CDU und FDP stünden selbst auf Seiten des zu bekämpfenden Faschismus.
Stattdessen war unter den Veranstaltern und auf der Rednerliste eine vom Verfassungsschutz als gewaltorientiert linksextremistisch beschriebene Gruppe. Mit denen die Demokratie verteidigen? Für mich ein Widerspruch und aus bürgerlicher Perspektive nicht vorstellbar.
Unsere Demokratie ist wirklich unter Hochspannung. Autokraten wie Putin schießen im wahrsten Sinne des Wortes in Richtung Demokratie. Trump versucht, Demokratie und Rechtsstaat zu zerstören. Extremisten hetzen gegen unsere demokratische Kultur und demokratische Institutionen. Es ist daher gut, dass Menschen für die Demokratie auf die Straße gehen. Aber es braucht mehr.
Natürlich braucht es Menschen auf der Straße. Aber vor allem braucht es auch Wähler für demokratische Parteien. Und Kandidaten auf demokratischen Listen. Und Mitglieder in demokratischen Parteien.
Zu wenige stellen sich mit Gesicht und Namen zur Wahl.
Zu wenige Menschen treten demokratischen Parteien bei.
CDU, SPD, Grüne und FDP. Diese vier Organisationen stehen für Demokratie ein und brauchen gerade jetzt Unterstützung. Denn sie stellen in diesen Wochen die Weichen dafür, dass die Menschen am 09.06.24 eine demokratische Wahl in den Kommunen und in Europa haben, basteln Kandidatenlisten, sammeln Spenden und planen Strasseninfostände. Alles im Ehrenamt. Und alles bei ohnehin steigenden Aggressionen gegen Menschen, die sich lokalpolitisch engagieren.
Es tut mir deshalb weh, zu hören, dass auf der Demo nicht nur gegen die AfD gesprochen, sondern auch gegen die „etablierten“ Parteien gewettert wurde bishin zu Buhrufen. Natürlich: Kritik ist ok. Aber, Leute, „wir“ sind keine Organisationen, die abgeschottet sind wie Burgen hinter Wassergraben, Tor und Mauer: Man kann bei uns mitmachen, seinen Standpunkt und seine Ideen einbringen.
Es besorgt mich deshalb, dass laut Allensbach 81 Prozent (!) angeben, statt sich auf das Politische zu konzentrieren, lieber in das Private zurückzuziehen wollen. In den eigenen vier Wänden kriegt man die komplexe Weltlage noch für sich sortiert…Dieses Problem betrifft alle Milieus - auch das bürgerliche. Ich kritisiere das.
Den Kampf FÜR die Demokratie gewinnen wir aber nicht mit Antifa-Fähnchen und Sprechchören gegen die Globalisierung, den Neoliberalismus, dieses Buzzword und jenes Buzzword. Schaffen solche Rituale das breite gesellschaftliche Bündnis, das den rechten Spinnern zeigt, wie die demokratische Mehrheit denkt und fühlt? Da ist die Demo leider zu einseitig gewesen. Laut Tagesschau und SWR fühlten sich deshalb einige der Demo-Besucher unwohl. Warum liest man darüber nichts im Schwäbischen Tagblatt?
Denn unserer Demokratie darf die Mitte nicht wegbrechen: Wenn die Initiatoren der Demo von Montag ernsthaft meinen, CDU und FDP stünden auf Seiten des Faschismus, dann haben wir ein ganz anderes Problem. Auf der anderen Seite steht nämlich die AfD - und für die sind wir Christdemokraten und Liberale nichts als linksversiffte Vaterlandsverräter.
Wahrlich kein gesellschaftliches Klima, in dem irgendjemand Lust bekommt, sich in der Öffentlichkeit zu engagieren.
Ja, der politische Extremismus ist eine existenzielle Bedrohung für unsere liberale Gesellschaftsordnung. Deshalb brauchen wir jetzt:
- Menschen, die wählen gehen.
- Menschen, die hinstehen und sich wählen lassen.
- Menschen, die Mitglied in demokratischen Parteien werden.
- Und: echte Lösungen für echte Probleme. Wir sollten weniger über die AfD reden und ihnen dadurch öffentliche Aufmerksamkeit verschaffen, die sie nicht verdient. Wir sollten arbeiten: Für gute Schulen, für gute Arbeitsplätze, für Sicherheit, für bezahlbares Wohnen, und und und.
Packen wir es gemeinsam an. Als Demokratinnen und Demokraten im Landkreis Tübingen.
Gerne lasst uns miteinander reden.
Mit den besten Grüßen
Christoph Naser